Montag, 15. Mai 2006

Ein schönes "Event" für die Multitude

Nachdem mich erst der kalte Wind in Athen in die Knie gezwungen hat und dann die Verwundbarkeiten der Technik den Uni-Server, so dass ich keinen Internetzugang hatte, komme ich nun endlich auch dazu, einige - erstmal atmosphärischen - Eindrücke von unsere Reise zum Athener ESF loszuwerden.
In aller Kürze: Die Reise hat sich gelohnt und die gewonnene Erfahrung möchte ich nicht missen. Hier auch noch mal vielen Dank an Heike, dass sie unsere Teilnahme ermöglicht hat!

Die OrganisatorInnen des Forums haben großartiges geleistet. So viele Menschen, Gruppen und interessante Veranstaltungen (das Programm für 2,5 Tage umfasste fast 30 Seiten) unterzubringen, ist eine tolle Leistung. Die zahlreichen Veranstaltungen zu Krieg und Frieden, Migration und Rassismus, Feminismus, Sozialpolitik und vielen anderen Themen haben einen guten Einblick in die europäische Situation und Diskussionen geliefert. Auch die Verständigung in den meist multilingualen Veranstaltungen hat – mit einigen Abstrichen - gut funktioniert. Dank der Organisation Babels und zahlreicher Techniker konnte während der Veranstaltungen mit einem Radio die simultane Übersetzung in verschiedene Sprachen empfangen werden. Last but not least war das kulturelle Rahmenprogramm genial, reichend von Ausstellungen bis zu dem allabendlichen Konzertangebot auf drei Bühnen.

Es ging aber organisatorisch auch einiges in die Hose: Dazu gehören die je nach Tageszeit schlechte Verpflegung. Als Kaffeesüchtige hat es mich erhebliche Nerven gekostet, manchmal bis zu sechsmal in einer sehr langen Schlange stehen zu müssen, um jedes Mal, wenn ich dann endlich dran war, zu erfahren, dass der Kaffee gerade aus ist. Unter den Entzugserscheinungen war ich manchmal nahe daran, dem Verfolgungswahn zu erliegen („steht irgendwo auf meiner Stirn, dass ich keinen Kaffee bekommen darf…?“). Die produzierten Müllberge waren auch nicht von schlechten Eltern: Die Getränke gab es nur in Dosen und die Brötchen waren in Plastikfolie eingeschweißt. Auch die Herkunft der verkauften Devotionalien war etwas fragwürdig. Oder war das praktizierte internationale Solidarität mit Sweat-Shop-ArbeiterInnen? Na ja, das andere, soziale und ökologische Europa lässt grüßen! Schließlich war es um die Informationspolitik nicht zum besten bestellt: Wir verweilten in dieser Zeit in einem ganz eigenen, fast schon hermetischen Kosmos, wie (und ob) das ESF in Griechenland und in Athen wahrgenommen wurde, drang zu mir nicht vor. Auch dass parallel zwei Gegenforen stattfanden, eines organisiert von der griechischen kommunistischen Partei, die das ESF als trotzkistisch (sic!) durchsetzt bezeichnete, konnte man höchstens durch Zufall erfahren. Etwas allein gelassen fühlen konnte man sich auch auf der Demo trotz der vielen TeilnehmerInnen. Es gab weder eine richtige Auftakt- noch Abschlusskundgebung. Auch wie man sich, dieses Gerücht hatte sich schon von Mund zu Mund verbreitet, gegenüber den als „Anarchisten“ bezeichneten DemonstrationsteilnehmerInnen verhalten soll, die sich erwartungsgemäß ihre Scharmützel mit der Polizei lieferten und die Demo immer wieder massiv störten, wurde nicht geäußert. Also nahmen wir fröhlich unseren immer mal wieder mit Tränengasschwaden durchzogenen Stop-and-Go-Marsch auf, manchmal als Schutzschilde für einige Idioten degradiert, vorbei an entglasten Banken und Läden sowie einem brennenden Auto. Aber nichtsdestotrotz: Es hat richtig Spaß gemacht, an einer so bunten und großen Demo teilzunehmen!

Etwas anachronistisch mutete die „Markthalle“ an, in der sich die Gruppen mit Infoständen präsentieren konnten. Nicht nur, dass wir, wie Andreas schon beschrieben hatte, bei der Suche nach einem Schlafplatz erst einmal gefragt wurden, zu welcher Partei wir gehören, auch hier war das Erscheinungsbild des ESF etwas parteiendominiert. Zudem konnte der Eindruck gewonnen werden, der Parteibildungsprozess im Namen des Marxismus-Leninismus und auch Stalinismus befände sich im Aufschwung. Hier hat man einen hervorragenden Überblick über so ziemlich jede Splitterpartei gewonnen, die sich auch immer wieder durch Aufmärsche mit Trommeln und Gesang auf dem Platz davor Aufmerksamkeit zu verschaffen suchten. (Regionale) Soziale Bewegungen, die ihre Arbeit vorstellten, waren dagegen leider in der Minderheit. Zum Glück war das nicht repräsentativ für die Veranstaltungen. Auf den - von mir besuchten - Seminaren, überwiegend zu den Themen soziale Rechte, öffentliche Dienstleistungen und Prekarisierung, gab es gute Beiträge zu der Situation in einzelnen Ländern und Versuchen der Gegenwehr. Allerdings waren die professionellen und oft auch hauptamtlichen Bewegungs- und Politfunktionäre eindeutig in der Überzahl, was nicht verwundert angesichts der Tatsache, dass so eine Reise halt auch Geld kostet. Eine große Anzahl derjenigen, von denen da auf den Veranstaltungen gesprochen wurde, wie Arbeitslosen etc. durfte man da nicht erwarten. Dennoch: dem Anspruch als zentrales Event der sozialen Bewegungen wurde das ESF sicherlich gerecht. Und es hat die Pluralität und Buntheit der sozialen Bewegungen in Europa auf den Punkt gebracht. So reizvoll dies war, hatte dies allerdings auch seine Schwächen. Nicht nur dass es nicht vorstellbar war, das in zahlreiche Blöcke ausdifferenzierte Themenprogramm und die vielen verschiedenen Gruppen zu einem Knoten zusammenführen. Auch in den Veranstaltungen zeigte sich das Problem: Herrschte bei der Deskription herrschender Zustände meist noch einmütiges Einverständnis, gab es bei der Analyse dieser - wenn es überhaupt so weit kam - schon mehr Differenzen. Bei der obligatorischen Betonung zur Notwendigkeit einer europäisierten Gegenbewegung sah sich schließlich niemand in der Lage, gemeinsame handlungswirksame inhaltliche und strategische Eckpfeiler, die über das Bekenntnis zu einem sozialen, friedlichen, ökologischen, nicht-rassistischen... Europa hinausgehen, zu benennen. Es wäre aber sicherlich zynisch, damit das ESF als konsequenzloses Happening einer kosmopolitischen und reisefreudigen Linken abzutun. Doch oft national eingeengte Diskurse konnte hier sicherlich etwas "Frischluft" zugeführt und auch mit einer europäischen Perspektive angereichert werden.

Soviel zu den „atmosphärischen“ Eindrücken über das „Event ESF“. Demnächst werde ich hier noch über einige der Veranstaltungen Bericht erstatten.

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